von Ulf Brunnbauer

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1. Juli 2015

 

Es war zweifelsohne kein Akt besonderer politischer Klugheit, als das offizielle Griechenland ausgerechnet Anfang April 2015 – inmitten des erneut eskalierenden Schuldenstreits zwischen Griechenland und seinen Gläubigern – mit besonderer Vehemenz Entschädigungszahlungen seitens der Bundesrepublik Deutschland für die Verbrechen der Wehrmacht und der materiellen Schäden durch die deutsche Besetzung im Zweiten Weltkrieg verlangte. Ein Schelm, wer angesichts der von Griechenland veranschlagten Summe für die Reparationsforderungen – 278,7 Milliarden Euro – an einen Zusammenhang mit dem Ausmaß der griechischen Staatsverschuldung (317 Mrd. Euro) dachte. Vizekanzler Gabriel, der die Verquickung von Schuldenproblematik und Kriegsentschädigung als „dumm“ bezeichnete, war hier kaum zu widersprechen. Allerdings vergaß er dabei, dass griechische Regierungen nicht erst seit 2015, sondern seit Jahrzehnten die unzureichende Entschädigung Deutschlands für Besatzungsverbrechen beklagen.

Abgesehen von der konkreten Höhe der Entschädigungsforderungen, deren Berechnung durch das griechische Parlament sowie den Rechnungshof des Landes kaum nachvollziehbar ist, sowie deren unglücklichen Zeitpunkt, verdienen die griechischen Argumente mehr Aufmerksamkeit, als die harschen Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit nahegelegt haben. Es gab zwar durchaus Stimmen in Deutschland, angefangen vom Bundespräsidenten über den CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter, SPD-Vize Ralf Stegner und den Linke-Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi, die wenigstens eine moralische Legitimität der griechischen Forderung anerkannten und für eine Kompromisslösung eintraten; die offizielle Position der Bundesregierung war jedoch eindeutig: Es gäbe keinerlei völkerrechtlichen Anspruch Griechenlands auf Reparationszahlungen, da die BRD Anfang der 1960er bereits Entschädigungszahlungen geleistet und das Zwei-plus-Vier-Abkommen weiteren Reparationsforderungen jegliche rechtliche Basis entzogen habe. Zudem verwiesen die Regierung beziehungsweise ihre Rechtsexperten auf das Prinzip der Staatenimmunität.

Eine rechtliche Beurteilung der griechischen Forderungen ist Sache der Gerichte, und somit auch eine Überprüfung der apodiktisch vorgetragenen Haltung der Bundesregierung, etwaige Reparationsforderungen hätten sich durch vergangene Abkommen sowie durch Zeitablauf erledigt. Diese Argumentation weist eine gehörige Portion Zynismus auf, denn – wie Hagen Fleischer nachdrücklich beschreibt – mehrere Bundesregierungen haben gezielt auf eine faktische Verjährung (eine förmliche scheint es hier nicht zu geben) der Ansprüche hingewirkt.[1] Im Zuge der „Zwei-plus-Vier“-Verhandlungen zur Vorbereitung der Wiedervereinigung 1990 war es der damaligen Bundesregierung unter Helmut Kohl ein großes Anliegen, das avisierte internationale Abkommen mit den Alliierten nicht als Friedensvertrag zu bezeichnen; einen solchen hatte das Londoner Schuldenabkommen von 1953 als Basis für die Regelung damals noch offener Reparationsforderungen an Deutschland vorausgesetzt. Die Bundesrepublik war sich wohl durchaus bewusst, dass sich nicht alle von NS-Deutschland überfallenen und verwüsteten Staaten ausreichend entschädigt fühlten.
Die BRD hatte sich 1960 gegenüber Griechenland vertraglich verpflichtet, für die Entschädigung von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung 115 Millionen DM an Griechenland zu zahlen.

Zum anderen scheinen jene, die Reparationsforderungen kurzerhand als anachronistisch und aus der Zeit gefallen abtun, zu vergessen, dass die BRD noch in den 1990ern und 2000ern neue, als „humanitäre Leistungen“ bezeichnete, faktische Entschädigungszahlungen an bisher nicht berücksichtige Opfergruppen geleistet hat (wie ehemalige Zwangsarbeiter/innen und überlebende jüdische Opfer in den ehemals sozialistischen Ländern). Diese Leistungen manifestierten eine neue moralische Logik der Verantwortung auch jenseits gerichtlich eingeklagter (bzw. einklagbarer) Verpflichtungen.[2] Weiter gedacht ist der Einwand gegen aktuelle griechische Forderungen, sie wären völkerrechtlich nicht legitimiert, nicht sehr konsequent. Zu diesen Leistungen war es nicht aus plötzlicher Einsicht der Bundesrepublik, sondern als Ergebnis massiven politischen Drucks seitens der USA, erfolgreichen Einzelklagen sowie in den USA eingereichten Sammelklagen gegen deutsche Unternehmen gekommen.[3]

Das durchaus zutreffende Selbstbild eines Landes, das sich intensiv der Aufarbeitung seiner Vergangenheit widmet und Sühne als eine wichtige politische Ratio versteht, scheint zu einer Mythologisierung der Entstehung dieses reflektierten Umganges mit der eigenen Vergangenheit zu führen. Ausgeblendet werden die Mühen und Umwege, derer es bedurfte, um diesen Zustand zu erreichen. Die Enthistorisierung des Prozesses der Vergangenheitsbewältigung schlägt sich in der moralischen Entrüstung nieder, mit welcher den griechischen Forderungen begegnet wird, die vor allem von konservativen Politikern nicht nur als rechtlich grundlos, sondern als ethisch unangemessen dargestellt werden. Implizit schwingt der Vorwurf mit, dass Griechenland alte Wunden aufreißen würde, nachdem sich Deutschland so intensiv um Versöhnung bemüht habe; und natürlich verweisen Kommentatoren auf das Argument des gefährlichen Präzedenzfalles, der bei einem Eingehen auf griechische Reparationsforderungen geschaffen werden würde – ein Argument, das heute ebenso wenig überzeugt, wie es in den 1990er und 2000ern zur Abwehr der damals letztlich akzeptierten Opferansprüche angebracht gewesen wäre.

Wie gesagt, die griechische Regierung hat sich und ihrem Anliegen keinen Gefallen getan, Schulden- und Entschädigungsfrage in einen impliziten Zusammenhang zu bringen, sei es nur ein zeitlicher. Nicht zuletzt wird sie dadurch dem Gedenken an die Opfer nicht gerecht, denn Entschädigungszahlungen an Opfer deutscher Verbrechen und deren Nachkommen wären nicht dazu angetan, die leeren Kassen des griechischen Staatshaushalts zu füllen.
Eine Ausnahme würde die Rückzahlung einer nie völlig getilgten Schuld Deutschlands aus einer Zwangsanleihe darstellen, die das besetzte Griechenland der Deutschen Reichsbank gewähren musste.
Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass Deutschland nicht nur materiell wenig zur Wiedergutmachung in Griechenland beigetragen hat und Entschädigungsforderungen jahrzehntelang abgewehrt hat, sondern auch in seiner Gedenkkultur den deutschen Verbrechen in Griechenland wenig Aufmerksamkeit zukommen lässt. Es dauerte bis zum Staatsbesuch von Bundespräsident Joachim Gauck in Griechenland im März 2014, dass ein Spitzenrepräsentant der Bundesrepublik die Angehörigen der Opfer von Besatzungsverbrechen um Verzeihung bat.[4] Die griechischen Forderungen stellen daher nicht nur eine rechtlich mehr oder – wohl eher – weniger gut begründete Forderung nach finanzieller Kompensation dar, sondern auch eine nach verstärkter Anerkennung des Leids, das deutsche Truppen der Bevölkerung Griechenlands während des Zweiten Weltkriegs zugefügt haben. Griechenland will keine Leerstelle im deutschen Erinnerungsraum bleiben.

Die Okkupation Griechenlands durch Deutschland (und Italien und Bulgarien) von April 1941 bis Oktober 1944 war durch äußerste Brutalität gekennzeichnet, welche die griechische Besatzungserfahrung mit der jugoslawischen und sowjetischen vergleichbar macht.[5] Die in den von Deutschland (und Bulgarien) besetzten Gebieten lebenden Juden wurden von den deutschen Truppen in Vernichtungslager deportiert und dort ermordet; fast 60.000 der vor dem Krieg ca. 70.000 Juden Griechenlands fielen dem Holocaust zum Opfer. Bei Geiselerschießungen und Vergeltungsaktionen der deutschen Truppen nach tatsächlichen oder vermeintlichen Widerstandsaktionen seitens griechischer Partisanen, wurden tausende griechische Zivilisten getötet; ganze Dörfer – wie Distomo, Kalavryta, Klissoura – wurden ausgerottet und markieren heute in Griechenland zentrale Erinnerungsorte, während in Deutschland kaum jemand etwas mit ihnen verbindet. Durch seine Besetzungspolitik trug Deutschland auch maßgeblich zur Genese des Bürgerkriegs in Griechenland bei, der bis 1949 dauern und in die Gegenwart reichende gesellschaftlich-politische Trennlinien nach sich ziehen sollte.

Diese Gräuel werden in Deutschland nicht verschwiegen, aber aus griechischer Sicht erfahren sie in der deutschen Gedenkkultur nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Dies mag auch auf einer gewissen Aufmerksamkeitsökonomie der Schuld beruhen und auf der Tatsache, dass im Vergleich zu anderen geschädigten Nationen Griechenland wenig Verhandlungsmacht gegen Deutschland mobilisieren konnte; zumal griechische Nachkriegsregierungen im Sinne einer raschen Versöhnung und der Integration der Bundesrepublik in das westliche Verteidigungsbündnis die Entschädigungsforderungen oftmals zurückstellten. Als Griechenland die Assoziierung an die EWG anstrebte, machte die Bundesrepublik der griechischen Regierung zudem deutlich, dass Entschädigungsforderungen diesem Ziel nicht förderlich sein würden.[6] Die Tatsache, dass die deutsche Justiz keine Verfahren gegen die Verantwortlichen von Kriegsverbrechen in Griechenland durchführte, konnte das griechische Zutrauen in die Bereitschaft Deutschlands, die Aufarbeitung und Wiedergutmachung deutscher Verbrechen in Griechenland voranzutreiben, nicht gerade erhöhen.[7]

Die Sympathien für die griechische Regierung sind zurzeit in Deutschland, sieht man von der Linksfraktion ab, nicht besonders groß. Die Boulevardmedien, allen voran die Bild-Zeitung, verbreiten üble Klischees über „die Griechen“. Umgekehrt ist es nicht viel besser. Kurz: die deutsch-griechischen Beziehungen befinden sich auf einem Tiefpunkt. Dass es so weit kommen konnte, hat nicht nur mit der seit 2008 betriebenen Krisenpolitik zu tun. Die Ursachen gehen tiefer: In weiten Teilen der griechischen Öffentlichkeit wird Empathie in Deutschland für die im Zweiten Weltkrieg an der Bevölkerung Griechenlands begangenen Verbrechen vermisst. Ob dies eine zutreffende Meinung ist oder nicht, ist nicht weiter von Belang. Vielmehr ist seitens der deutschen Öffentlichkeit und Politik Empathie für diese Perzeption verlangt; bei etwas Gewissenserforschung – konkret: der Auseinandersetzung mit der gezielten Abwehrhaltung wiederholter Bundesregierungen gegenüber griechischen Entschädigungsforderungen – erscheinen die Forderungen Griechenlands in ihrem historischen Gehalt vielleicht gar nicht mehr so absonderlich. Das Selbstbild vieler Deutschen, sich vorbildlich mit der eigenen Vergangenheit beschäftigt zu haben und für deren Schattenseiten, auch materiell, geradezustehen, entspricht nicht unbedingt den Wahrnehmungen in jenen Ländern, die im Zweiten Weltkrieg Opfer Deutschlands waren. Diese kognitive Dissonanz gilt es zu überwinden.

Mit den mancherorts bereits vorgeschlagenen Initiativen − wie einem ausreichend dotierten Fonds nach dem Beispiel der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft − ließe sich ein Zeichen, und mehr als das, setzen: zur materiell-moralischen Entschädigung von Opfern, ihren Angehörigen und Gemeinden ebenso wie zur Erinnerungsarbeit über eine noch vergleichsweise wenig beachtete Dimension deutscher Weltkriegsverbrechen und den Umgang mit ihnen nach 1945. Es wäre tragisch, würde der Kampf um die Deutungshoheit in der aktuellen Krise im deutsch-griechischen Verhältnis dazu führen, eine gegenseitige Frustrationsrechnung aufzumachen und die Reflexion über die historische Verantwortung Deutschlands auf dem Altar fiskalpolitischer Grundsatzdiskussionen zu opfern.

 

[1] Hagen Fleischer: Der lange Schatten des Krieges und die griechischen Kalenden der deutschen Diplomatie, In: Chryssoula Kambas / Marilisa Mitsou (Hrsg.): Hellas verstehen. Deutsch-griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert, Köln 2010, S. 205–240.
[2] Ebd.
[3] Hagen Fleischer: Schuld und Schulden – Der Fall Griechenland „final geklärt“? In: Südosteuropa-Mitteilungen, 55 (2), 2015, S. 62f.
[4] Fleischer: Der lange Schatten des Krieges, S. 223.
[5] Siehe Hagen Fleischer: Im Kreuzschatten der Mächte. Griechenland 1941-1944 (Okkupation – Kollaboration – Resistance), 2 Bde. Frankfurt u.a. 1986; ders.: Griechenland, In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S. 241-274; ders.: Deutsche „Ordnung“ in Griechenland 1941-1944, In: Loukia Droulia / Hagen Fleischer (Hrsg.): Von Lidice bis Kalavryta: Widerstand und Besatzungsterror. Studien zur Repressalienpraxis im Zweiten Weltkrieg, Berlin 1999, S. 151-223; Mark Mazower: Inside Hitler's Greece: the experience of occupation, 1941–44, New Haven 2001.
[6] Fleischer: Der lange Schatten des Krieges, S. 223.
[7] Hagen Fleischer: „Endlösung“ der Kriegsverbrecherfrage. Die verhinderte Ahndung deutscher Kriegsverbrechen in Griechenland, In: Norbert Frei (Hrsg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 474-534.