von Tim Neu

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19. Dezember 2022

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Tim Neu bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen".  Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Winter- und Sommersemester 2021/22 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


 

Geschichtliche Grundfragen
Teil V

Wie findet und formuliert man eine gute historische Frage?
Diskussion am 28. November 2022 (online)

Eingangsstatement von Tim Neu (Universität Wien)

Auch ich möchte mich zunächst ganz herzlich für die Einladung bedanken, ich fühle mich wirklich sehr geehrt. Und es freut mich natürlich besonders, dass sich heute Abend gleich so viele von Ihnen und Euch zugeschaltet haben. Die Gründe dafür sind wahrscheinlich ebenso vielfältig, sicherlich wollen viele von Ihnen und Euch vor allem hören, was David Kuchenbuch und Ute Frevert zu sagen haben. Nicht zuletzt aber scheint mir die Größe des Publikums auch etwas damit zu tun zu haben, dass die heute auf der Tagesordnung stehende „Geschichtliche Grundfrage“ ein echtes Problem aufwirft. Das soll natürlich nicht heißen, dass das in den vier vorangegangenen Veranstaltungen nicht so war, aber heute ist es jedenfalls auch so. Die Frage nach der guten Frage bezeichnet nämlich ein Problem, das Historiker:innen, und dazu gehören natürlich auch angehende, also studierende Historiker:innen, im Grunde ständig umtreibt, und zwar in Studium, Forschung und Lehre gleichermaßen.

Worin aber genau besteht das Problem? Nun, auf der einen Seite ist die Frage ein unabdingbares Element unserer wissenschaftlichen Praxis: Wir entwickeln Fragen für unsere eigene Forschung in Hausarbeiten, Aufsätzen und Büchern, viele von uns sollen Studierenden beibringen, wie man Fragen formuliert, und einige von uns beurteilen die Fragestellungen von Qualifikationsarbeiten und Anträgen. Johann Gustav Droysen hatte also recht: „Der Ausgangspunkt des Forschens ist die historische Frage.“[1] Und wegen dieser wissenschaftspraktischen Bedeutsamkeit finde ich es auch so wichtig, dass die Veranstalter:innen nicht gefragt haben, was eine gute historische Frage ist, sondern wie man eine solche findet und formuliert. Wir reden also nicht über eine geschichtstheoretische Grundfrage, sondern über eine geschichtsmethodische. Auf der anderen Seite aber, und damit erhebt sich das Problem, ist es mit der Methodisierung nicht weit her: Schaut man sich Einführungen in die Geschichtswissenschaft an, so finden sich praktisch keine konkreten Anleitungen dazu, wie und auf welche Weise, mit welchen geregelten Verfahren sich gute Fragen finden und formulieren lassen. Es ist fast so, als würden die meisten Autor:innen hier Hans-Georg Gadamer folgen: „Eine Methode, fragen zu lernen, das Fragwürdige sehen zu lernen, gibt es nicht.“[2] Die gute historische Frage ist also eine Art invertierter Heiliger Gral: Alle behaupten, ihn zu haben, aber niemand kann erklären, wie er denn gefunden wurde.

Ein derart fundamentales Problem lässt sich klarerweise nicht so leicht lösen, und schon gar nicht in zehn Minuten, was also kann ein kurzes Eingangsstatement stattdessen leisten? Um unser gemeinsames Nachdenken über die Wege zur Findung und Formulierung guter Fragen in Gang zu bringen, möchte ich einen Umweg im Denken vorschlagen, einen Umweg über eine uns disziplinär fremde Art und Weise, Fragen zu stellen, ein Umweg, von dem ich mir einen Verfremdungseffekt erhoffe, der es uns erleichtert, über unsere eigene Fragenfindung nachzudenken. Konkret schlage ich vor, einen Blick auf die juristische Praxis zu werfen. Das wird den meisten jetzt allerdings – um in der Metapher zu bleiben – eher abwegig vorkommen. Denn auf den ersten Blick beantworten Jurist:innen doch vor allem Entscheidungsfragen des Typus „Ist A des Diebstahls schuldig oder nicht?“ und gehen dabei so vor, dass sie den einzelnen Sachverhalt unter allgemeine Rechtssätze subsummieren. Diese Form des deduktiven Schließens vom Allgemeinen auf das Besondere genießt nun allerdings, um das vorsichtig zu formulieren, unter Historiker:innen keinen guten Ruf – und das zu Recht. Schaut man jedoch genauer hin, dann stellt sich heraus, dass das Fragen, das In-Frage-Stellen und das Aufwerfen von Fragen auch in der Rechtswissenschaft sehr viel breiter diskutiert werden, und zwar im Unterschied zur Geschichtswissenschaft gerade mit einem sehr starken Fokus auf die methodische Umsetzung. Ich bitte Sie also um einen Vertrauensvorschuss für diesen Umweg, der im Übrigen auch schon von Droysen eingeschlagen wurde, und den ich mit einem längeren Zitat von Joachim Hruschka beginnen möchte, dessen Werk über „Die Konstitution des Rechtsfalles“ von 1965 immer noch als Standardwerk gilt: 

 

„Alle richterliche Rechtsfindung […] setzt also ein mit einer aufsteigenden, mehrstufigen Fragebewegung. Auf einem passiv vorgegebenen Boden erhebt sich die Grundfrage nach dem Fall, die als solche schon immer eine rechtliche Bedeutung hat. Dieser Fragesinn […] bildet seinerseits den Grund, auf dem sich eine zweite Frage erhebt, die Frage nach den geltenden Rechtssätzen. In der fortschreitenden Beantwortung der zweiten Frage bekommt der Urteiler die Rechtssätze in den Griff. Das wirkt in der beschriebenen Weise wieder auf die Grundfrage zurück, die jetzt – in ihrem zweiten Durchgang – ausdrücklich im Hinblick auf diese Rechtssätze stellbar wird“.[3]

 

Während in der Geschichtswissenschaft zumeist von der historischen Frage im Singular gesprochen wird, zu der ein mutmaßlich geradliniger Findungsprozess führt, ist hier interessanterweise von einem mehrstufigen Verfahren die Rede, das unterschiedliche Teilfragen kennt und diese über Feedback-Schleifen miteinander in Beziehung setzt. Aber der Reihe nach, ich zitiere noch einmal Hruschka: „Der erste aktive Schritt des Urteilers zur Feststellung des Rechtsfalles ist dann eine Frage: die Grundfrage der Sachverhaltsbildung.“[4] Sachverhalte liegen also auch aus rechtswissenschaftlicher Sicht nicht einfach vor, sondern müssen in einem geregelten Erkenntnisprozess überhaupt erst gebildet werden; eine Ansicht, die zumindest schon mal geeignet ist, die Vorbehalte der mehrheitlich konstruktivistisch denkenden Historiker:innen abzubauen. Was aber heißt das genau, einen Sachverhalt zu bilden? Hier ein Zitat aus einer erst in diesem Jahr wieder aufgelegten Methodenlehre:

 

„Ist die rechtliche Einordnung dem Richter auf Anhieb nicht klar, wird es zu einer ersten Einschätzung dessen kommen müssen, ‚was Sache ist‘. Für den Richter muss ein rechtliches Muster erkennbar sein, denn nur so wird er abschätzen können, auf welche Informationen es für die Sachverhaltsfeststellung ankommt.“[5]

 

Am Anfang gibt es also noch gar keinen Sachverhalt, sondern nur die grundsätzliche Frage danach, ‚was Sache ist‘. Das ist aber nicht allein eine Frage des empirischen Materials, sondern was die Sache sein könnte, ergibt sich aus dem Erkennen rechtlich relevanter Muster im empirischen Material: Werden etwa durch Waffengewalt nichttödliche Wunden zugefügt, ließe sich provisorisch annehmen, dass gefährliche Körperverletzung ‚Sache ist‘. Anders gesagt: Man ordnet das empirische Material auf eine Weise an, dass es in rechtlicher Hinsicht als Körperverletzung lesbar wird. Gelingt diese provisorische Lesart, dann kann in einem zweiten Durchgang explizit nach den einzelnen Tatbestandsmerkmalen gefragt und der Sachverhalt gebildet werden. Erst muss also gefragt werden, was Sache sein könnte, um dann im Erfolgsfall weitergehend fragen zu können, wie es sich mit dieser Sache konkret und im Detail verhält, was wiederrum zu einem Sachverhalt führt, der genau deswegen rechtlich beurteilt werden kann, weil er das Resultat einer genuin rechtlichen Befragung des empirischen Materials darstellt.

Diese mehrstufige Methode scheint mir nun auch für unser gemeinsames Nachdenken über gute historische Fragen weiterführend zu sein. Allerdings ergibt sich direkt ein Problem: Für Richter:innen kommen als Antworten auf die Frage, was in einer gegebenen Situation Sache ist, nur rechtliche Sachen in Betracht, die abschließend aufgezählten gesetzlichen Tatbestände. Für Historiker:innen aber kann ja alles Mögliche Sache sein, Personen, Institutionen, Prozesse, Strukturen, you name it, im Grunde alle denkbaren Figurationen von Gestalten und Geschehen. Das ist natürlich Fluch und Segen zugleich, heißt das doch zum einen, dass Historiker:innen in der Wahl und im Zuschnitt ihrer Untersuchungs-Gegenstände, bei denen es sich ja schon begrifflich um Sachen handelt, absolut frei sind, sie aber andererseits stets auf Konzepte und Ansätze aus denjenigen Nachbarwissenschaften angewiesen sind, die sich ‚hauptberuflich‘ mit eben diesen Sachen befassen. Wer nach Institutionen fragen will, muss sich mit Institutionentheorie auskennen, wer nach Praktiken fragen will, sollte tunlichst Praxistheoretiker:innen gelesen haben, denn diese Spezialdiskurse liefern sozusagen die Tatbestände, anhand derer dann die spezifisch historischen Sachverhalte gebildet und untersucht werden können.

Ein Beispiel: Angenommen, das zu untersuchende historische Material bilden Gerichtsakten, in denen es um Präzedenzkonflikte geht, also die Rechtsfrage, wer vor wem reden, sitzen und laufen darf. Dieses Material lässt sich nun als Überrest eines historischen Rechtsfalles auffassen, aber als Historiker:in hat man offenkundig noch ganz andere Möglichkeiten, zu fragen, was Sache sein könnte. So könnte man beispielsweise die Grundfrage stellen, ob das Material als Überrest einer Praxisform symbolischer Konkurrenz gelesen werden kann. Und wenn dem so ist, wenn eine hinreichende Passung zwischen historischem Material und Grundfrage besteht, dann ergeben sich aus dem Forschungsstand zu symbolischer Konkurrenz konkretere Folgefragen. Stattdessen könnte man aber auch mit gleichem Recht fragen, ob sich aus dem Material nicht auch ein Sachverhalt bilden lässt, in dessen Zentrum Argumentationszusammenhänge für Ansprüche auf Präzedenz stehen. Und das würde wiederrum andere Folgefragen nach sich ziehen.

Ich komme zum Schluss: Man findet eine gute historische Frage, indem man erstens das historische Material versuchsweise als Überrest einer bestimmten Art von ‚Sache‘ zu begreifen versucht, um dann im Erfolgsfall die fachwissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesen ‚Sachen‘ heranzuziehen, um erklärend zu verstehen, wie sich die Sachen hier verhalten, welche Sachverhalte, oder geschichtswissenschaftlicher gesprochen: Zusammenhänge sie bilden. Man formuliert eine solche Frage sinnvollerweise im Schema „x als y“: Lässt sich das vorliegende historische Material als Sache/Gegenstand/Phänomen x begreifen, und wenn ja, was folgen dann aus dem Forschungsstand zu x für weitere Fragen?

 

[1] Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, 3., umgearb. Aufl., Leipzig 1882, S. 13.

[2] Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 1: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 371.

[3] Joachim Hruschka, „Rechtsanwendung als methodologisches Problem“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 50 (1964), H. 4, S. 485–501, S. 497f.

[4] Ebd., S. 489.

[5] Hans-Joachim Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens. Prozesse richterlicher Kognition, 2., akt. und erw. Aufl., Baden-Baden 2022, S. 226f.