Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Thomas Mergel bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltungen in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.
Geschichtliche Grundfragen
Teil VII: Wozu brauchen Historiker*innen Theorie?
Diskussion am 5. Mai 2023 (online)
Eingangsstatement von Thomas Mergel (Humboldt-Universität zu Berlin)
Ich habe ein bisschen gezögert, diese Einladung anzunehmen; ein bisschen war meine Befürchtung, dass wir hier auf dem virtuellen Podium alle etwas Ähnliches sagen würden. Die angesprochene Theoriemüdigkeit hat nämlich vielleicht auch damit zu tun, dass in vieler Hinsicht weitgehend Einigkeit herrscht, viel mehr als früher. Jürgen Kocka hatte noch gegen den damaligen Mainstream argumentiert, dass man Theorie in der Geschichtswissenschaft brauche. Das ist heute nicht mehr so. Theorie ist in gewisser Weise eine Normalität geworden, und wir haben ein großes Potpourri an verschiedenen Theorien vor uns, aus denen man auswählen kann.
Ich würde über einen anderen Theorietypus sprechen wollen als Frau Emich, meine Aussagen aber auch darauf beziehen wollen. Ich rede auch nicht über Geschichtstheorie im Sinne einer Theorie des historischen Verlaufs, eine Theorie des Laufs der Geschichte. Das subsumiere ich unter „Geschichtsphilosophie“, und deren Zeit ist, meine ich, vorbei. Ich komme eher von der Soziologie und halte mich an die klassische Trias von
a. Erkenntnistheorie: Wie können wir die Wirklichkeit erkennen?
b. Sozialtheorie: wie fassen wir menschliches Handeln, das Zusammenleben der Menschen miteinander und in einer nichtmenschlichen Umwelt?
c. Gesellschaftstheorie: Wie stellen wir uns bestimmte Gesellschaften und ihre spezifischen Strukturen vor?
Mein Ziel ist heute primär, die Theorie vom hohen Ross herunterzuholen, auf das man sie gerne mal setzt. Auf drei Punkte möchte ich eingehen:
1. Theorie fängt bei Alltagssätzen des gesunden Menschenverstandes an. „Geld regiert die Welt“: Das ist nicht nur Alltagswissen, sondern gleichzeitig auch ein theoretischer Satz, der eine (sehr) einfache Theorie des Ökonomismus formuliert. Aber auch wenn man über einen anderen spricht und sagt: „Da steckt man nicht drin“, dann ist dies vielleicht eine basale Theorie des Fremdverstehens. Wenn man jemandem auf eine Äußerung entgegnet: „Das sagst Du“, ist auch das eine theoretische Aussage: über Positionalität und Standortbindung, über das, was Chladenius den „Sehepunkt“ genannt hat.
Deshalb würde ich den Ausgang bei der These nehmen, dass bereits das Alltagswissen „theoretisch“ ist, insofern es verallgemeinernde, abstrahierende Sätze formuliert. Ohne solche Verallgemeinerungen können wir uns in der Welt nicht bewegen, weil wir damit Einzelbeobachtungen ordnen und verknüpfen und Annahmen über Sachverhalte formulieren können, die uns empirisch noch unbekannt sind. Großtheorien sind lediglich komplexer, weisen ihren Gegenstand und ihre Ausgangsannahmen besser aus, benennen ihre Grenzen genauer, beanspruchen aber ebenso, eine reale Wirklichkeit zu beschreiben. Wenn man genau hinsieht, haben diese Theorien häufig nur unterschiedliche Sprachen entwickelt (Per Leo hat dies „Sound“ genannt: den Foucault-Sound oder den Bourdieu-Sound), behandeln aber jeweils ähnliche Probleme: Wie ist gesellschaftliche Ordnung möglich? Wie funktioniert Herrschaft, soziale Ungleichheit? Wie geschieht Wandel? Wie können wir verstehen, was wir vor uns haben? Bestimmte Begriffe sind aus der Theoriesprache in die Alltagswelt eingedrungen: Klasse, Differenzierung, System, Habitus, Diskurs. Auch die heutige alltagsweltliche Empirie (erst recht die wissenschaftliche) weist also theoretische Versatzstücke auf.
2. Eine Trennung von Theorie und Empirie ist nicht hilfreich und es gibt sie eigentlich auch nicht. Wenn wir beobachten, ziehen wir daraus Schlüsse, auf deren Basis wir weiterarbeiten, weitere Beobachtungen machen können. Alle Theoretiker:innen haben als Empiriker:innen angefangen, die Schlüsse gezogen haben. Max Weber hat mittelalterliches Handelsrecht, römische Agrargeschichte und empirische Sozialwissenschaft (bei der großen Landarbeiterenquete des Vereins für Sozialpolitik) getrieben. Niklas Luhmann hat als Verwaltungsjurist angefangen und war zunächst empirischer Organisationssoziologe. Bourdieus theoretische Zentralbegriffe wie „Habitus“ oder „Theorie der Praxis“ entstanden im Zusammenhang mit ethnologischen Feldforschungen in Nordafrika und soziologischen Studien zum französischen Bürgertum der 1960er Jahre. Gerade bei den Großtheoretiker:innen ist der Weg von der Beobachtung zum theoretisierenden Schluss sehr schön zu beobachten. Diese Schlüsse sind aber nicht unempfindlich gegen die Empirie, sondern in deren Licht verändern sie sich. Man kann also nicht eine Theorie auf Empirie „anwenden“, und am Ende kommt das heraus, was die Theorie schon vorher gesagt hat – weshalb ich immer zurückhaltend bin gegenüber den beliebten Theoriekapiteln nach der Einleitung. Ein solcher Aufbau lässt nämlich vermuten, dass der Erklärungsrahmen für das, was danach empirisch dargeboten wird, schon vorher festgelegt wird, und das hat etwas Zirkuläres an sich. Vielmehr sind Theorien bestimmte Perspektiven auf die Realität. Sie bieten einen Blickwinkel an, unter dem man etwas Bestimmtes sieht, unter dem man unter Umständen etwas anderes auch nicht sieht. Aber sie formulieren kein Ergebnis vor. Deshalb würde ich statt „anwenden“ lieber „verarbeiten“ sagen.
3. Insofern sind Theorien in unserer empirischen Arbeit nicht im engeren Sinn falsifizierbar. Marx‘ Theorie der kapitalistischen Klassengesellschaft ist nicht „richtig“ oder „falsch“. Sondern sie lenkt den Blick auf eine Realität, die man mit der Systemtheorie nicht so sieht. Mit dieser sieht man dafür etwas anderes. Eine gute Übung ist es, einen empirischen Gegenstand versuchsweise unter unterschiedlichen theoretischen Perspektiven zu betrachten – wie unterschiedlich sieht der Gegenstand dann aus? Zum Beispiel kann man sich „Gesellschaft“ vorstellen als etwas, was „von oben“ her geschieht. Da redet man dann über Strukturen, Prozesse, Organisationen, Normen und Werte: In dieser Sicht „gibt“ es gewissermaßen die Gesellschaft vorgängig, bevor irgendwer etwas tut, und sie bietet eine Art von strukturierendem Rahmen für die Akteur:innen und ihre Handlungen. Talcott Parsons wäre der klassische Vertreter eines solchen Denkens. Oder lassen wir Gesellschaft „von unten“ beginnen? Dann fangen wir damit an, wie zwei Menschen miteinander kommunizieren, sich verstehen oder auch nicht. Dann reden wir über Handlungen, Praxen und Akteur:innen, über Intersubjektivität, Symbole und Rituale, Kontingenz. Peter Berger und Thomas Luckmann haben diese Perspektive in ihrem berühmten Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ ziemlich eindrucksvoll und didaktisch wertvoll aufgezeigt; damit wird jedoch „Gesellschaft“ eine andere Erzählung, als wenn wir „von oben“ anfangen.
Dieser Perspektivwandel durch theoretische Ausgangsannahmen geht auch historisch: Ich streite mit Matthias Pohlig gerne über den Begriff der Frühen Neuzeit. Denn ich bin Anhänger einer historischen Theorie, die eine longue durée der Moderne seit dem Mittelalter sieht und fragt, wie über Jahrhunderte hinweg bestimmte Vorstellungen emergiert sind, die wir heute bündig als „Moderne“ fassen - während Matthias Pohlig mit dem Begriff der Frühen Neuzeit eine eigene Epochalität fassen möchte, in der das Nebeneinander von Davor und Danach, die Ungleichzeitigkeiten kennzeichnend sind. Man kann hier nicht sagen, dass das eine richtig und das andere falsch ist. Sondern wir haben unterschiedliche Perspektiven vor uns, die uns das eine zu sehen erlauben, das andere vielleicht nicht.
Der Wert einer Theorie ermisst sich daran, was damit erklärt werden kann, oder in meiner Diktion: was man damit Neues sieht. Das aber wiederum ist stark von außerwissenschaftlichen, oft politischen Koordinaten abhängig: Was wollen wir überhaupt sehen? Ein von Frau Emich eingebrachtes Thema, das ich auch erwähnt hätte, wäre „Gender“. Dies war zunächst ein außerwissenschaftlich formuliertes Thema, das zu einem wissenschaftlichen Problem wurde und uns genötigt hat, eine neue Perspektive einzunehmen. Die theoretischen Diskussionen über Gender und Gendertheorie, aber damit eben auch die Geschlechtergeschichte als Subdisziplin lassen sich nicht verstehen ohne den Bezug auf die außerwissenschaftlichen Kontexte, in denen das Problembewusstsein entstanden ist. Wir sehen heute die Ungleichheit der Geschlechter systematisch als eine Form von sozialer Ungleichheit – in den 1950er Jahren konnte davon noch keine Rede sein.
Ich selbst habe dieses Verständnis von Theorie als einer Perspektive ausprobiert, indem ich den Reichstag der Weimarer Republik als einen kommunikativen Raum zu beschreiben versucht habe, nicht als Kampfort von Ideologien, von Parteien oder von „Republik gegen Diktatur“. Vielmehr bin ich ausgegangen von dem berühmten Satz des Kognitionspsychologen Paul Watzlawick „Man kann nicht nicht kommunizieren“. Die Reichstagsabgeordneten, so sehr sie einander vielleicht politisch gehasst haben, mussten ja irgendwie miteinander zurechtkommen und ihre Gesetzesarbeit tun. In diesem Zusammenhang habe ich mich für kommunikatives Handeln als Alltagspraxis und Routine interessiert (die Anregungen dafür kamen aus Denkschulen, die man unter den Namen „Ethnomethodologie“ oder „Praxeologie“ kennt). Ich habe mich für symbolische Kommunikation interessiert und dafür viel aus der Ethnologie gelernt. Dabei habe ich nach den Modi und Regeln des Sprechens gefragt und mir dafür Anregungen aus der Diskurstheorie, der Sprechakttheorie und der Cambridge School um J.G.A. Pocock und Quentin Skinner geholt. Die Ausgangsannahme war, dass Politik nicht allein aus Programmen, Zielen, Maßnahmen, Idealen besteht. Sondern sie ist in hohem Maße alltagsweltliches soziales Handeln. Dahinter stand auch die Kritik an einer rationalistischen Konzeption von Politik, auch eine Kritik an gängigen Vorstellungen von politischen Überzeugungen (wie etwa die kurzschlüssige Rückprojektion der heutigen liberalen Demokratie). Insofern stand auch eine Kritik an selbstverständlichen Weimar-Interpretationen im Raum. Da standen nicht einfach Republikaner (selbst Vernunft-Republikaner:innen) gegen Anti-Republikaner:innen. Es gab geheime, gar nicht thematisierte Einigkeiten, etwa ein harmonistisches Gesellschaftsideal, wie es sich im Begriff der „Volksgemeinschaft“ äußerte, die beileibe nicht nur ein Ideal der Rechten war, sondern bis weit in die Linke hinein ersehnt wurde. Darin zeigte sich aber, dass es noch keine Vorstellung von Pluralismus gab, wie wir es heute für eine demokratische Selbstverständlichkeit halten würden, sondern dass das Ideal in einer Gesellschaft von Ähnlichen bestand. In Hinsicht auf Vorstellungen von einer guten Gesellschaft und der Politik, die daraus erwachsen müsse, war Weimar unserem politischen Verständnis viel fremder als man leichthin annehmen würde. Als bundesrepublikanische Vorläufergeschichte war die Weimarer Republik für mich damit nicht mehr leicht beschreibbar. Dies war aber eine – durchaus unintendierte – Folge meines interaktionistischen Zugriffs.
Ein Gutachter meiner Arbeit meinte damals: Dieser ethnologische Blick, das Symbolische, die kommunikativen Routinen seien nicht wichtig zum Verständnis Weimars. Wozu müsse man Sitzordnungen, Anreden, Rednerreihenfolgen kennen? Aber dieser Gutachter hatte auch ein ganz anderes Verständnis von Weimar, nämlich als Vorläuferin der Bundesrepublik, als demokratisches Lehrstück.