von Christiane Reinecke

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25. September 2023

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Christiane Reinecke bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltungen in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


Geschichtliche Grundfragen

Teil VIII: Kann man aus der Geschichte lernen?

Diskussion am 7. Juli 2023 (online)

Eingangsstatement von Christiane Reinecke (Europa-Universität Flensburg)

 

Kann man aus der Geschichte lernen? Das ist eine Frage, die in dieser Form unter Historiker:innen schnell ein leichtes Unbehagen hervorruft. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass unser heutiges Verständnis von Geschichte als offen, kontingent und durch Wandel geprägt sich für etwaige Lehren im engeren Sinne schwer zu eignen scheint. Das hält Historiker:innen aber nicht davon ab hervorzuheben, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte Relevanz besitzt, und zwar durchaus Relevanz für die jeweilige Gegenwart – und sei es, um den Wert ihres eigenen Tuns nach außen zu rechtfertigen. Also, um gegenüber Politik und Gesellschaft oder gegenüber den Vertreter:innen anderer Disziplinen deutlich zu machen, warum es die Geschichtswissenschaft braucht.

Auf einige dieser Versuche, die Bedeutung der Geschichte und Geschichtswissenschaft für die Gegenwart hervorzuheben, möchte ich im Folgenden näher eingehen. Ich tue das aus der Perspektive einer Zeithistorikerin und nehme daher vor allem Bezug darauf, wie Historiker:innen den Wert von Geschichte unterstreichen, die besonders gegenwartsnah arbeiten. Genau genommen scheint es mir aktuell drei besonders gängige Formen oder Modi zu geben, den Wert der Geschichte für die Gegenwart hervorzuheben. Drei besonders gängige Modi, die ich hier der Einfachheit halber als „normativ“, „subjektivierend“ und „genealogisch“ bezeichnen möchte. Ich skizziere diese Modi kurz, bevor ich anschließend darauf eingehe, was für Herausforderungen sich damit verknüpfen, die Relevanz der Geschichte für die Gegenwart hervorzuheben. Doch zu den Modi:

1.) Ich denke, gerade in geschichtspolitischen Debatten, die meist nicht im Feld der Wissenschaft geführt werden, an denen sich Historiker:innen aber beteiligen, begegnet einem aktuell häufig ein normativer Modus der Relevanzmachung von Geschichte. Normativ insofern, als es um das Argument geht, dass ein vertieftes Verständnis von Geschichte ein verändertes Handeln in der Gegenwart erfordert. Besonders häufig zu beobachten ist das im Zusammenhang mit der Geschichte von Kolonialismus, Nationalsozialismus und Gewalt.

Das vertiefte Wissen um vergangenes Unrecht – um die Arisierung jüdischer Geschäfte zur NS-Zeit beispielsweise oder um die gewalthafte Entwendung kultureller Artefakte im Kolonialismus – wird mit der Aufforderung verknüpft, in der Gegenwart eine veränderte Politik, ein verändertes Selbstverständnis oder veränderte kulturelle Praktiken anzustreben. Wenn aktuell die Restitution kolonialer Raubkunst gefordert wird, ist das eine Lehre, die aus der Geschichte gezogen wird. Ebenso, wie die aktuell zu beobachtende Veränderung bestimmter Sprachpraktiken als Lehre aus der Geschichte gilt; in diesem Fall aus der Geschichte von Rassismus und Diskriminierung. Kurz: Ein Lernwert der Geschichte liegt offenbar darin, dass sie unseren Blick für historisch bedingte Ungleichheits- und Unrechtsverhältnisse schärft, von denen wiederum angenommen wird, dass sie (zumindest in Teilen) bis in die Gegenwart hineinwirken.

2) Eine weitere gängige Form, den Wert der Geschichte hervorzuheben, scheint mir ein subjektivierender Modus zu sein. Es geht dabei um das Versprechen, dass die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen historischer Akteure hilft, uns selbst – individuell oder als Teil einer Gruppe – besser zu verstehen. Neu ist das sicher nicht: Auch früheren Historiker:innen hat der Blick in die Geschichte der individuellen oder kollektiven Selbstverständigung gedient. Auch sie haben in der Geschichte auf die eine oder andere Weise nach Wiedergänger:innen ihrer selbst gesucht oder nach Erfahrungen, zu denen sie die eigenen in Beziehung setzten konnten. Dennoch fällt auf, dass Historiker:innen die Reflexion über ihre eigene (meist über den Bezug auf Class, Race, Sex und Gender beschriebene) soziale Positionalität aktuell häufiger und vor allem expliziter zum Ausgangspunkt ihrer historischen Forschungen machen. Als besonders relevant gilt die Auseinandersetzung mit Geschichte demnach aktuell, weil sie ein vertieftes Verständnis sozialer Positionalitäten verspricht.

3) Der Wert der Geschichte wird häufig in einem genealogischen Modus gesucht, der darauf zielt zu verstehen, wie die Gegenwart zu dem geworden ist, was sie ist. Theoretisch mitunter unterfüttert durch den Bezug auf Michel Foucault und dessen genealogisch-kritische Analysen, ist dieses Verständnis eines Mehrwerts von Geschichte besonders häufig in der zeithistorischen Forschung zu finden.

Dass die Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte uns verstehen hilft, wie die Gegenwart geworden ist, was sie ist: Das ist ein aktuell häufig formulierter Anspruch an die Geschichte. Vor allem deutsche Zeithistoriker:innen beschreiben es als ihre Aufgabe, eine „Vor“- oder „Problemgeschichte der Gegenwart“ zu betreiben. Dabei geht die Formel von der „Problemgeschichte der Gegenwart“ auf einen Aufsatz des Münchener Historiker Hans-Günter Hockerts zurück, der 1993 kritisierte, dass die deutsche Zeitgeschichte auch jüngere historische Entwicklungen zu sehr allein als Nachgeschichte des Nationalsozialismus konzipiere. Hockerts dagegen forderte, sich „stärker (…) auf die Vorgeschichte gegenwärtiger Problemkonstellationen“ zu konzentrieren.[1] Auch, weil er hoffte, dass es dann möglich würde, in der Zeitgeschichte neue epochale Zäsuren zu konturieren. Tatsächlich haben sich viele Forschende seitdem um die Konturierung neuer zeithistorischer Zäsuren bemüht. Vor allem zeichnet eine stetig wachsende Gruppe die 1970er Jahre als Jahrzehnt des Umbruchs, als Beginn einer Epoche „nach dem Boom“ und damit als den eigentlichen Beginn der „Vorgeschichte unserer Gegenwart“.

Und sicherlich ist das ein überzeugendes „Relevanz“-Argument: Die Zeitgeschichte, die besonders nah dran ist am Jetzt, sucht nach den Anfängen von Problemen, die uns alle in der Gegenwart umtreiben. Mir scheint es aber auch ein paar Fallstricke dieses Relevanzarguments zu geben. Zu diesen Fallstricken gehört, dass Untersuchungen, die zu sehr als Vorgeschichte aktueller Entwicklungen konzipiert sind, mitunter Gefahr laufen, ihre Geschichten allzu linear auf die Jetztzeit zulaufen zu lassen. Ungleichzeitigkeiten geraten dabei rasch aus dem Blick. Das Gleiche gilt für Formen der langen Dauer und die Kontingenz und damit die prinzipielle Offenheit von historischen Entwicklungen.

Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht gar nicht so überraschend, dass über den starken Gegenwartsbezug historischen Forschens heftig debattiert wird. In verschiedenen historischen Foren, darunter der Zeitschrift der American Historical Association, wird derzeit eine intensive Debatte über den angeblichen „Präsentismus“ der historischen Forschung geführt. Der Begriff „Präsentismus“ wird dabei meist mit einem polemischen Unterton verwendet: Er ist politisch aufgeladen, weil er gerne mit der Kritik an Historiker:innen einhergeht, die angeblich so sehr von gegenwärtigen politischen Agenden, Identitätspolitiken und Positionierungen getrieben sind, dass sie der Eigenlogik vergangener Zeiten, vergangener Gesellschaften und vergangener Denkweisen zu wenig gerecht werden. Geschichte, so die Kritik, sollte nicht nur durch gegenwärtige politische Belange definiert werden und historisches Wissen sollte mehr sein als ein bloßes Erklärungsinstrument für die Gegenwart.

Andere halten dagegen, dass Geschichtsschreibung auf die eine oder andere Weise schon immer gegenwartsbezogen war. Dass Historiker:innen gar nicht anders können, als Fragen zu stellen und Argumente zu finden, die mit ihren eigenen Positionen, Werten und somit auch mit ihrer eigenen Gegenwart verwoben sind. Der britische Historiker David Armitage etwa empfiehlt in einem jüngst veröffentlichen Artikel mit dem Titel „In Defense of Presentism“ seinen Leserinnen und Lesern wärmstens, sich als Präsentisten zu verstehen. Und zwar unter anderem, um auf diese Weise besser der (erkenntnistheoretischen) Unvermeidbarkeit gerecht zu werden, die Vergangenheit mit den Augen der Gegenwart zu betrachten.

Tatsächlich denke auch ich, dass wir uns deswegen als Präsentistinnen oder Präsentisten sehen sollten, weil wir den Einfluss gegenwärtiger Belange und Positionierungen auf unsere Erzählungen über die Geschichte erkenntnistheoretisch kaum bestreiten können. Wir sollten uns aber auch bewusst sein, dass die spezifischen Geschichts- und Lernmodi, derer wir uns bedienen, in der Regel zugleich produktiv und blind sind: Sie sind produktiv, weil sie uns auf bestimmte Zusammenhänge aufmerksam machen, und blind, weil sie dazu führen, dass wir andere vernachlässigen. So, wie etwa die Auseinandersetzung mit Genealogien und Kontinuitäten uns helfen kann, die Gegenwart besser zu verstehen, so kann auch die Auseinandersetzung mit Brüchen und Diskontinuitäten dazu beitragen, dass wir die gegenwärtige Welt besser verstehen – und auf diese Weise aus der Geschichte lernen.


 

[1] Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 98-127, hier S. 124.