Saime Genç hat eine Straße. 556 Meter lang, 6,6 Meter breit.
Seit 1998 – Saime wäre zehn geworden – trägt der Saime-Genç-Ring in Bonn-Dransdorf ihren Namen: Eine neugebaute Straße in einem dezentral gelegenen Industriegebiet.
Lokale Aktivist:innen des Bonner Integrationsrates engagierten sich in den 1990er Jahren für die Straßenbenennung, die an den rassistischen Brandanschlag von Solingen erinnert. 66,7 Kilometer – die Distanz zwischen Tat- und Erinnerungsort.
Saime starb im Alter von vier Jahren in der Nacht auf den 29. Mai 1993 in der Unteren Wernerstraße in Solingen. Diese Straße hieß damals so und sie heißt heute so. In dem brennenden Wohnhaus der Familie starben in jener Nacht auch Hatice Genç, Gürsün İnce, Gülüstan Öztürk und Hülya Genç. Am Tatort erinnern heute fünf Kastanienbäume und eine Gedenktafel an sie. Die Jahre vor dem Solinger Anschlag waren geprägt von rechter Gewalt – bereits in den 1980er Jahren hatten solche Gewalttaten in Ost- und Westdeutschland zugenommen, doch nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wurde der rechte Terror Legion. Die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, die Brandanschläge von Hünxe, Mölln und Solingen – im frisch wiedervereinigten Land kam es zu einer bald breit wahrgenommenen Häufung rassistischer Gewalt und Ortsnamen wurden zu Synonymen. Die Namen der Opfer traten im öffentlichen Erinnern dahinter zurück.
Die rassistische Gewalt der Nachwendejahre richtete sich gegen Asylsuchende, deren Abwehr im ersten Bundestagswahlkampf nach dem Mauerfall zum Politikum wurde. Sie richtete sich aber ebenso gegen Vertragsarbeiter:innen und Menschen, die als „Gastarbeiter:innen“ in die alte Bundesrepublik gekommen waren und mit ihren Familien blieben. 2019, dreißig Jahre nach dem Mauerfall, etablierte sich in den sozialen Medien der Begriff Baseballschlägerjahre für die Zeit nach der Wende, als vielerorts rechte Jugendkulturen mit ihrem gewaltaffinen Auftreten Boden gewinnen konnten. Viele User:innen beteiligten sich an einer Debatte, die die Formen und Effekte rechter Gewalt aus Sicht der Betroffenen im Jubiläumsjahr sichtbar machte. Rechte Gewalt, die zeitgenössisch mit Lichterketten und akzeptierender Sozialarbeit weggehofft wurde. Gleichzeitig – vorgeblich auch, um dem rassistischen Hass den Boden zu entziehen – wurde mit der Grundgesetzänderung vom 26. Mai 1993 das Asylrecht in Deutschland völlig ausgehöhlt. Drei Tage später brannte das Haus der Familie Genç in Solingen.
Die Schweizer Filmemacherin und Autorin Güzin Kar hat mit Deine Straße einen formal zurückgenommenen und minimalistischen, inhaltlich aber umso länger nachhallenden Kurzfilm auf der diesjährigen Berlinale (Berlinale Shorts) vorgestellt. Getragen wird er von Sibylle Bergs Erzählung aus dem Off, sowie den trostlosen Details des Orts, welche in Schichten den Zuschauer:innen offengelegt werden (Schnitt: Simon Gutknecht, Kamera: Felix von Muralt). Gedreht wurden die Bilder bei denkbar trübem Wetter – aber auch bei Sonnenschein wäre dem portraitierten Ort nur wenig Schönes abzuringen. Spaziergänger:innen verlaufen sich wohl nicht hierher, es ist kein „Ort an den man gerne geht“.[1] Schon während ihres Studiums Mitte der 1990er Jahre hatte Kar so einen Film drehen wollen, der Erinnerungskultur ausgehend von ihren Denkmälern hinterfragt.[2] 2019 besuchte Kar dann den Saime-Genç-Ring, sezierte ihn erst mithilfe des iPhones und fand Bilder, deren große Kraft ihre kaltschnäuzige Normalität ist. Der Film findet zur Hässlichkeit der Tat die richtigen Bilder (und Worte): die Hässlichkeit der Straße – die sich nur graduell unterscheidet von der Hässlichkeit deutscher Straßen anderswo. Zurückbleibt die Zuschauerin irritiert, warum – und wie!? – diese Straße im Gewerbegebiet, gesäumt von Autowaschanlagen und Gartenbaubetrieben, an Saime erinnern soll. Erinnert diese Straße in ihrer Banalität, ihrer bösen Alltäglichkeit, nicht eher an die Täter?
Der in Asphalt gegossene Erinnerungsort am Rande der Stadt führt den beschämten – und beschämenden – Umgang mit der Erinnerung an die Opfer rechter Gewalt vor. „Im Zentrum der Stadt sorgen Namen und Geschichten wie deine für Unbehagen“, heißt es dazu im Film. In Solingen selbst wurde – trotz Ratsbeschluss aus dem Jahr 1994 – erst 2012 ein kleiner Platz umbenannt. Mercimek-Platz heißt er jetzt und erinnert an den türkischen Geburtsort der Familie Genç – 3.500 Kilometer entfernt von Solingen, wo Familienmitglieder bis heute leben. Der Mercimek-Platz liegt dezentral, ebenso wie ein nach dem Anschlag von Solinger Bürger:innen privat errichtetes Mahnmal. Eine Genç-Straße hatte die Familie sich einst für Solingen gewünscht,[3] aber ihr Wunsch blieb unerfüllt.
Als Kasselerin erinnert mich Kars Film auch an die Auseinandersetzung um Erinnerungsorte für die Opfer rechten Terrors in meiner Stadt. Kurz nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios im November 2011 und der Aufdeckung einer langen rechtsterroristischen Mordserie forderte Ismail Yozgat die Umbenennung einer zentralen Kasseler Straße in Halit-Yozgat-Straße. Sein Sohn Halit starb am 6. April 2006 in seinem an dieser Straße gelegenen Internetcafé – er war das neunte Opfer des NSU. Doch die Umbenennung einer solch großen, langen und zentralen Straße – der Wunsch wurde schnell als schlechterdings nicht durchführbar abgelehnt. Stattdessen weihte die Stadt Kassel im Oktober 2012 den Halitplatz[4] ein – er liegt in der Nähe des ehemaligen Internetcafes und führt auf den städtischen Friedhof. Ein Gedenkstein erinnert hier an den Namensgeber. Der Platz und der Stein – der schon mutwillig beschädigt wurde – wirken wie Kompromisse des Erinnerns rechter Gewalt im öffentlichen Raum. Sie sind sicher nicht das, was sich Hinterbliebene und Freund:innen gewünscht haben. Ihre Anstrengungen um adäquate Formen des Erinnerns werden noch viel zu oft als Störung denunziert anstatt wertgeschätzt und unterstützt.
Den Anschlag von Solingen und spätere rechte Anschläge verbindet neben dem Kampf um angemessene Formen öffentlicher Erinnerung auch das Versagen der Ermittlungsbehörden. Wegen zahlreicher Pannen war das 1995 beendete Gerichtsverfahren gegen vier junge Männer aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Familie Genç umstritten. Die möglichen Verwicklungen eines V-Manns des nordrhein-westfälischen Landesamtes für Verfassungsschutz in die Solinger Neonaziszene konnten im Prozess ebenfalls nicht aufgeklärt werden – viele Fragen zur Arbeit der Ermittlungsbehörden blieben unbeantwortet. Jüngere Formen des Erinnerns an rechten Terror schließen diese Dimension institutioneller Verstrickungen mit ein – insbesondere dann, wenn das Gedenken zivilgesellschaftlich organisiert ist. Soziale Medien helfen heute dabei, die Erinnerung an Opfer rechter Gewalt wachzuhalten, die Opfer zu hören und kritischen Fragen Raum zu geben. Ein Jahr nach dem rassistischen Anschlag etwa hat es die „Initiative 19. Februar Hanau“ mit dem Hashtag #saytheirnames geschafft, dass die Namen, Gesichter und Geschichten der Opfer weit über Hanau hinaus bekannt sind. In hunderten Städten blicken sie uns von tausenden Wänden an und erinnern an ihr Fehlen.
Auch Saime fehlt. Güzin Kar hat ihr mit ihrem Kurzfilm ein stärkeres Denkmal gesetzt, als es der Saime-Genç-Ring je sein kann.
Deine Straße, Schweiz 2020, Regie: Güzin Kar, Dauer: 7 Minuten.
Der Kurzfilm "Deine Straße" läuft im Rahmen des Berlinale-Sommer-Specials im 4. Shorts-Block am Mittwoch 09.06. um 21:45 im Freiluftkino Hasenheide und am Donnerstag 10.06. um 21:45 im Freiluftkino des Filmrauschpalasts.
Deine Strasse/Your Street Trailer from Güzin Kar on Vimeo.
Die Redaktion empfiehlt zur weiterführenden Lektüre das auf zeitgeschichte|online erschienene Dossier Zeitgeschichte der Rechten. Neue Arbeiten zu einem jungen Forschungsfeld, herausgegeben vom Zeithistorischen Arbeitskreis Extreme Rechte.
[1] Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder wünschte sich in der Auseinandersetzung um das zentrale Mahnmal für die Opfer des Holocausts in Berlin einen Ort mit solch Aufenthaltsqualitäten.
[2] Daniel Fuchs, Auf Google Maps über eine Straße gestolpert – Film gedreht: So kam es zu Güzin Kars Berlinale-Beitrag, in: St. Galler Tagblatt, 05.03.2021.
[3] Thilo Schmidt, »Die Menschen waren in einem Schockzustand.« 25 Jahre nach dem fremdenfeindlichen Mordanschlag in Solingen, in: Deutschlandfunk Kultur, 28.05.2018.
[4] Die documenta 14 mischte sich 2017 mit einigen Interventionen in das städtische Erinnern ein – so benannte der Künstler Rick Lowe die Straße im Rahmen seines Ausstellungsbeitrags zumindest symbolisch auf einer Stadtkarte in Halitstraße um. Vgl. Monika Szewczyk, Rick Lowe.