Dieser Film ist eine Zumutung. Er beginnt mit völliger Finsternis und dröhnenden, unheimlichen Klängen, die tief gleichsam aus dem Höllenschlund kommen – nahezu drei Minuten lang, bis die Klänge leiser werden und Vogelgezwitscher zu hören ist. Es wird hell und eine Badegesellschaft am Ufer eines Flusses ist zu sehen. Männer in schwarzer Badehose, die Frauen kümmern sich um die Kinder, von den Gesprächen sind nur wenige Worte zu verstehen. Irgendwann bricht die Gruppe auf, bahnt sich ihren Weg durch das Gestrüpp zu zwei schwarzen Limousinen, mit denen durch die Dämmerung nach Hause gefahren wird. Ein Haus im Dunkeln, ein Licht nach dem anderen erlischt.
Es ist der Vorabend von Rudolf Höß‘ 42. Geburtstag 1943, der im Film in den Sommer verlegt wird. Freikorpskämpfer, Fememörder, seit 1923 NSDAP-Mitglied, gehörte Höß seit 1934 zur Konzentrationslager-SS und stieg rasch auf. Seit Mai 1940 ist er Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, das er auf Weisung Himmlers mit großem Engagement ausbaut. Zehntausende Häftlinge sollen für die IG Farben und andere Zwangsarbeit leisten, Auschwitz sich zu einer SS-Musterstadt entwickeln, ein „Interessensgebiet“ der SS. Diejenigen, die in den Augen der Täter „arbeitsunfähig“ waren, vor allem alte Menschen und Kinder, werden umgebracht. Im Juli 1942 hatte die erste Selektion in Auschwitz-Birkenau stattgefunden. Seitdem rollen die Züge aus Europa in das Vernichtungslager.
Seine Frau Hedwig, 1908 geboren, war wie ihr Mann Mitglied der Artamanen, einem rechtsradikalen, antisemitischen Bund, der sich die „germanische“ Besiedlung und Beherrschung Osteuropas zum Ziel gesetzt hatte. Die beiden heirateten 1929, hatten fünf Kinder, wobei das jüngste, Annegret, gerade 1943 geboren wurde.
Das alles erfahren die Zuschauer:innen nicht. Der Film dient nicht der historischen Aufklärung; er setzt voraus, dass man weiß, was in Auschwitz geschah und wer Rudolf Höß war. Die historischen Details und Bezüge, die im Film zu erkennen sind, werden nicht weiter erläutert. Sie sind nicht so wichtig für das, was der Film zeigen will.
Im Zentrum steht das alltägliche Leben eines deutschen Haushalts neben der unvorstellbaren Gewalt, vom Grauen jenseits der Gartenmauer, die im Film zur Lagermauer stilisiert wird. Aber wir sehen keineswegs eine Idylle, denn die Gewalt ist in diesem Film omnipräsent, auch wenn sie nicht explizit gezeigt wird. Die Geräusche des Lagers, Hundegebell, Kommandoschreie, Schüsse sind ständig zu hören, der Rauch aus den Krematorien zu sehen, allem liegt ein fernes Dröhnen wie von einer Maschine zugrunde. Der Ton in diesem Film ist ein eigenständiges Element, nicht wie sonst häufig illustrativ, sondern bildet hier eine eigene auditive Dimension (Für den Sound verantwortlich: Johnnie Burn und Tarn Willers).
Die allgegenwärtige Gewalt ist aber auch zu sehen. Höß (Christian Friedel) kommt nach Hause, zieht vor der Tür seine Stiefel aus und sobald er hineingegangen ist, huscht ein Häftling herbei, packt die Stiefel und wäscht den Dreck, das Blut unter einem Wasserstrahl ab. Mit seinem ältesten Sohn Klaus (Johann Karthaus) reitet Höß aus und während er sich belehrend über die Rohrdommel auslässt, werden Häftlinge mit Hunden und Schlägen daneben durch das Schilf getrieben. Techniker der Firma Topf & Söhne stellen Höß ihren neuen „Ringeinäscherungsofen“ vor, mit dem Menschen – die Techniker sprechen von „Ladungen“ – noch rationeller verbrannt werden können: „Brennen, abkühlen, entladen, nachladen“.
Ebenso ist die alltägliche Korruption sichtbar. Ein Häftling – hier bezieht sich der Film auf eine historische Person: den polnischen Häftling Stanisław Dubiel, der als Gärtner arbeitete und im Nachkriegsprozeß gegen Höß ein wichtiger Zeuge war – bringt Lebensmittel aus dem SS-Lager, damit im Hause Höß kein kriegsrationierter Mangel herrscht. Im Gegenteil, alle Köstlichkeiten und Leckereien kommen bei den Höß‘ auf den Tisch. Es werden auch Kleidungsstücke gebracht, Wäsche für die Hausbediensteten, einen eleganten Pelzmantel für Hedwig Höß (Sandra Hüller), in dem sie sich allein vor dem Spiegel als mondäne Frau inszeniert. Alle wissen, dass diese Kleidungsstücke den Ermordeten geraubt wurden.
Hedwigs Schmuckstück ist ihr Garten, der nach ihren Plänen, selbstverständlich mit der Arbeit von Häftlingen, angelegt worden ist. Voller Stolz stellt sie ihn ihrer Mutter (Imogen Kogge) bei deren Besuch in Auschwitz vor, zeigt ihr die Blumenarrangements, Gemüsebeete, Bienenstöcke, die Kräuteranlagen… Ja, antwortet sie ihrer Mutter auf deren Frage, das sei die Lagermauer (was historisch nicht stimmt), aber sie pflanze jetzt Wein und Rosen davor. „Kind“, so die Mutter bewundernd, „da bist Du ja auf die Füße gefallen.“ Und Hedwig lachend: „Rudi nennt mich die Königin von Auschwitz“.
Dieses Leben ist für Hedwig die Erfüllung ihrer Träume. Im Streit mit Rudolf, als sie erfährt, dass er nach Oranienburg in die Zentrale der Konzentrationslagerverwaltung versetzt wird und sie keineswegs mitziehen, sondern mit den Kindern weiter in Auschwitz wohnen will, bringt sie es für sich auf den Punkt: „Das ist unser Zuhause, Rudolf! Wir leben hier so, wie wir es uns immer erträumt haben seit wir siebzehn sind, besser als wir es uns erträumt haben. Raus aus der Stadt; wir haben alles, was wir wollen, direkt vor unserer Haustür. Unsere Kinder sind gesund, kräftig. Es ist so, wie der Führer gesagt hat, wie wir leben sollen, in den Osten vordringen, Lebensraum – das ist unser Lebensraum!“
Deutlicher lässt sich die Ausblendung des Grauens jenseits der Mauer, die Realitätsverleugnung und die absichtliche Empathielosigkeit wohl kaum ausdrücken.
Es ist keineswegs so, dass diese Menschen keine Wahl in ihrer SS-Welt gehabt hätten. Hedwigs Mutter fühlt sich in dieser Umgebung unwohl, kann den Rauch der Kamine, den Lagerlärm, den Gestank der Verbrennungsöfen nicht ertragen und verlässt das Haus unangekündigt über Nacht. Hedwig findet am nächsten Morgen nur einen Brief von ihr vor. Wir erfahren nicht, was darinsteht, aber auf Sandra Hüllers Gesicht ist das Erstaunen, die Abwehr, der Ärger zu erkennen. Wutentbrannt wirft sie den Brief in den Kaminofen, faucht eine Bedienstete wegen eines nichtigen Anlasses an, dass, wenn sie wollte, ihr Mann deren Asche über Auschwitz wehen lassen würde – eine Drohung, die sie laut dessen Zeugenaussage gegenüber Stanisław Dubiel geäußert hatte.
Mehr noch, es gibt auch Widerstand. Ein Mädchen versteckt in der Nacht heimlich Äpfel und Kartoffeln an den Orten, an denen Häftlinge arbeiten müssen. Diese Szenen dreht Regisseur Jonathan Glazer mit einer Wärmebildkamera, wie ein Traum, wieder mit jenen unheimlichen, dröhnenden Klängen im Hintergrund, während, parallel geschnitten, Rudolf Höß seinen beiden Töchtern aus „Hänsel und Gretel“ vorliest. Es bleibt unklar, welche Bedeutung diese besondere Filmästhetik hat, ob diese Szenen uns auf etwas Unreales in der realen Umgebung der Gewalt hinweisen soll, auf die Parallelität einer ganz anderen Welt von Mitgefühl in der Hölle der Unmenschlichkeit. Der Film lässt es offen, wie er es auch sonst uns als Zuschauer:innen überlässt, die Bilder zu deuten. Dieses Mädchen findet eine Dose mit einem Notenblatt, das Lied „Zunenshtraln“, das Joseph Wulf (1912-1974) 1943 als Häftling in Auschwitz komponiert hat (im Film hört man sogar seine Stimme dazu im Off), und spielt die Melodie auf dem Klavier – als gäbe es ein Echo aus der Welt des Lagers in der anderen Realität der Gewalttäter.
Mitgefühl für andere Menschen, liebevolle Emotionen füreinander sind Rudolf und Hedwig Höß nicht möglich. Sexualität befriedigt er mit abhängigen Frauen, die er benutzt. Seine Zuneigung gilt den Kindern, denen gegenüber ebenso die Asymmetrie der Macht herrscht. Sentimental wird er mit seinem Pferd – Theweleit läßt grüßen! –, dass er streichelt, liebkost und bei dem er sich über seine Versetzung weinerlich beklagt.
Mitunter jedoch brechen selbst in dieser hermetisch abgeschotteten Gefühlswelt Risse auf. Als Höß mit seinen beiden Töchtern im Fluss badet und plötzlich Asche aus den Krematorien herangeschwemmt wird, ist er panisch bemüht, die Kinder aus dem Wasser und nach Hause zu bringen, wo sie in der Badewanne abgeschrubbt werden, damit ja alle wieder sauber werden. Und am Schluss des Films, als er aus Oranienburg wieder zurück nach Auschwitz beordert wird, um die Selektion und Ermordung der 400.000 ungarischen Jüdinnen und Juden im Sommer 1944 zu organisieren, übergibt er sich im Treppenhaus der KZ-Zentrale, das er allein spät in der Nacht heruntergeht.
Am Ende öffnet der Film der Blick in die Jetzt-Zeit. Polnische Angestellte werden gezeigt, wie sie morgens in der Auschwitz-Gedenkstätte putzen, die einstige Gaskammer fegen, die Verbrennungsöfen abstauben, die Glasfenster vor den Bergen an Schuhen, Koffern, Krücken wischen… eine Szene, die ganz unterschiedliche Interpretationen zulässt. Geht es um die Kontinuität des Unbeteiligtseins gegenüber dem Grauen? Soll Gleichgültigkeit oder der Abstand zur Vergangenheit gezeigt werden? Oder – dieser Deutung würde ich zuneigen – wird die Schwierigkeit thematisiert, wie wir uns heute im geordneten Gedenken an den Holocaust mit der Erinnerung an die massenhafte Gewalt auseinandersetzen?
Dieser Film fordert heraus. Es ist kein Geschichtsfilm über Auschwitz – darum sind auch Fragen nach der Authentizität der historischen Details nicht so erheblich. Auch wenn Glazer sich sehr bemüht hat, alle historischen Quellen und Zeugnisse der überlebenden Häftlinge zu berücksichtigen, bleibt der Film selbstredend fiktiv. Wir wissen nur fragmentarisch, was im Hause Höß gesprochen wurde. Er ist ebenso wenig ein Film über eine deutsche Idylle, der die Täterinnen und Täter verharmlost. Die Todesgewalt ist überall präsent; an der Kälte und dem Willen zur Vernichtung ist nicht zu zweifeln. Und die buchstäbliche Mauer, die die eine Welt von der anderen trennt, ist viel durchlässiger, als es scheint. Alle Nachkriegsbehauptungen der Täterinnen und Täter, man habe nichts gewusst, straft dieser Film Lügen. Rudolf und Hedwig Höß bestimmen selbst, nichts sehen, hören, riechen zu wollen. Menschen haben nicht Hass, sagte Jonathan Glazer während der Aufführung des Films in Berlin, Menschen entscheiden sich für Hass.
Dieser Film ist vielmehr politisch, weil er dazu auffordert, Stellung zu beziehen gegen Empathielosigkeit und Grausamkeit. Obwohl er eine extreme Situation schildert, die in der Tat historisch ist, richtet sich der Film an uns in der Gegenwart und lenkt in Konfrontation mit den Filmfiguren den Blick auf uns selbst. Welche Mauern errichten wir gegen die Welten, in denen Menschen massenhaft Gewalt angetan wird? Wie viele Rosenstöcke pflanzen wir vor den Mauern, damit die Schönheit unserer Gärten unberührt bleibt? Welchen Aufwand betreiben wir, damit wir nichts sehen, hören, wahrnehmen? Es sind diese Fragen, die einen nach diesem Film nicht mehr loslassen. Deshalb ist er in meinen Augen ein eminent wichtiger und sehenswerter Film, selbst wenn er keinen Oscar erhalten hätte.
Die Auszeichnungen als bester internationaler Film und für den Ton hat er allemal verdient.
Zone of Interest (USA, Vereinigtes Königreich, Polen)
Originalsprache: Deutsch, polnisch, jiddisch
Regie: Jonathan Glazer
Prämiert mit dem Oscar für den besten internationalen Spielfilm und für den Besten Ton am 11. März 2024